Sirmon Raymann

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Monumentale Schlüssigkeit

Nach einigen Jahren der Bekanntschaft mit Sümen Dreisig wage ich, behaupten zu können, sowohl die Kunst Sümen Dreisigs als auch den Menschen Sümen Dreisig selbst ein wenig zu kennen. Erstmals begegnet sind wir uns Mitte der 90er Jahre. Wer diese Zeit miterlebte, ist mittlerweile in einem Alter, in dem Menschen, die diese Zeit nicht miterlebten, noch nicht sind. Somit handelt es sich bei Sümen Dreisig und mir um Zeitzeugen, die, je älter sie werden, immer weniger werden, bis sie irgendwann die einzigen sind, die noch übrig sind, um von einer Zeit zu erzählen, die nicht nur längst vergangen, sondern auch längst nicht mehr vorstellbar ist, so lang her ist sie und so ganz anders war es, dass dann alles dermaßen anders ist, dass es fast nichts mehr mit dem zu tun hat, wie es früher mal war.
In Anbetracht dieser Tatsachen scheint es mir um so wichtiger, dass es Menschen gibt, die sich einer der wichtigsten Aufgaben der Kunst annehmen, Menschen, die selbstlos ihre Zeit auf Erden darauf verwenden, diese Zeit, in der sie leben, für die Nachwelt wegweisend festzuhalten.
Der ganze piefige, pissige Mist – da hätte doch kein Mensch, der diese Zeit nicht mitgemacht hat, eine Ahnung, wie das hier ablief. Dieser Mensch könnte sich ein paar Dokus reinziehen, in Archiven blättern, sich mehr oder weniger intensiv mit dieser Zeit beschäftigen aber irgendwie nicht das Gefühl rausbekommen, dieser ganzen Vergangenheit, die er nicht mitgemacht hat, wäre noch irgendein unschuldiger Zauber eigen, den seine eigene Zeit schon nicht mehr besitzt. Dank Sümen Dreisig wird die Sehnsucht zukünftiger Menschen nach der Vergangenheit nicht für die Zeit gelten, in der sich das Schaffen Sümen Dreisigs ereignete.
In der Kunst Sümen Dreisigs, in seinen unzähligen Bildern und Installationen, wird auf den ersten Blick deutlich: diese Zeit, ebenso wie jede andere war und bislang ist: auch diese Zeit war Scheiß. Auch in dieser Zeit haben die Menschen es nicht hinbekommen, es sich so richtig schön schnucklig auf der Erde einzurichten. Ein Blick auf die Bilder Sümen Dreisigs genügt, und dem Betrachter erschließt sich der Zusammenhang, dass die Vergangenheit und eine schöne Zeit sich gegenseitig ausschließen. Sümen Dreisig ist zu Recht als der große Zertrümmerer zukünftiger Illusionen der zukünftigen Menschen unsere Zeit betreffend zu bezeichnen.
Noch in Jahrhunderten, wenn es sie denn geben wird, wird man Sümen Dreisigs Bilder anschauen und augenblicklich erkennen: diese Menschen damals waren mies, die Gesellschaft, in der sie lebten, war eine aus Kaputten zusammengemurkste, und in dieser Gesellschaft zu leben, bedeutete Unangenehmes. Die Anstrengungen, die unternommen wurden, um es sich besser zu machen, waren fadenscheinig oder total uninspiriert und halbherzig. Aber unter ihnen gab es Einen, der war anders als alle anderen; der hat den Menschen der Zukunft vorsorglich die schöne Vergangenheit ausgetrieben; der hat sich selbstlos um etwas gekümmert, was es noch gar nicht gab und von dem niemand wissen konnte, ob es das jemals geben wird; der hat durch seine Bilder deutlich werden lassen: was die Menschheit jemals tat, kann man vergessen. Getrost vergessen. Die Menschen der Zukunft werden sich endlich der Zukunft zuwenden, weil ihnen sonst nur eine Vergangenheit bliebe, die niemand mehr haben will, denn die Menschen der Zukunft werden sich dank Sümen Dreisig von der Vergangenheit abgewendet haben. Einzig durch die Betrachtung der Bilder Sümen Dreisigs und dessen unumwundener Zurschaustellung seiner Zeit werden die Menschen der Zukunft der Vergangenheit als einer Zeit fröhnen, die ihnen diese glücklicherweise Zeit genommen hat. Sich um etwas zu scheren, das es vielleicht niemals geben wird, sich der Zukunft anzunehmen und an ihr mitzuwirken, obwohl der Ausgang des Ganzen ungewiss ist – das ist Größe, und genau das ist die explizite Größe Sümen Dreisigs.
Und genau diese Sache aber scheint mir Fragwürdigkeiten aufzuwerfen. Ich habe mit Sümen Dreisig darüber oft diskutiert: die Menschen der Zukunft könnten gerade wegen des Engagements Sümen Dreisigs dem Irrglauben aufsitzen, eine Zeit, in der eine Persönlichkeit wie Sümen Dreisig gelebt und gewirkt hat, sei allein deshalb, weil Sümen Dreisig in ihr gelebt und gewirkt hat, eine bewunderungswürdige und herbeiwünschenswerte. Eine Zeit, in der wenigstens ein einziger Mensch noch den Durchblick hat, kann so schlecht nicht sein und ist, wenn auch nur wegen dieses einen Menschen, so doch wegen diesem einen allein, eine geradezu höchst interessante. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Menschen geben wird, die auf diesen Gedanken kommen, erscheint mir mehr als wahrscheinlich, kommen wir doch immer wieder auf Gedanken, die sich festgesetzt haben und Gedankennachdenker finden, sobald sie ausgesprochen sind (was sie hiermit sind). Eine Zwickmühle. Selbst Sümen Dreisigs Logik ist nicht unanfechtbar und ist es gerade deshalb. Die eigene Machtlosigkeit des Künstlers wird dadurch deutlich. Eine Machtlosigkeit, der mit dem Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit ehrlich begegnet wird und die mit diesem Akt der Kühnheit doch wieder machtvoll wird. In wieweit diese Ehrlichkeit nur Masche des Künstlers Sümen Dreisig ist, um dem eigenen künstlerischen Schaffen zur Bedeutung zu verhelfen, möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen; diese Frage scheint mir den ernsthaften Absichten Sümen Dreisigs nicht gerecht zu werden. Eine Vision, die Schwachstellen aufweist, ist gerade aus diesem Grund immer umso höher zu bewerten. Ich verorte die Visionen Sümen Dreisigs deshalb in den schillernden Dimensionen der großen Menschheitsträume.
Aber noch einmal zurück zu der Überlegung, zukünftige Menschen könnten unsere heutige Zeit aufgrund der zur Zeit ablaufenden Lebenszeit Sümen Dreisigs verklären. Vor diesem Irrglauben wird allein der Glaube an die Kraft der Arbeiten Sümen Dreisigs bewahren.
Es sei hier als vorbeugende Maßnahme gegen das zukünftige Aufbauschen der Vergangenheit eines Künstlers, der mit seinen Arbeiten gerade das zu verhindern versucht, noch einmal explizit im Sinne einer Warnung erwähnt: Sümen Dreisig ist ein universaler Freak. War es immer und wird es immer sein. Zu denken, mit einem Freak ließe sich auskommen und was Krasses erleben, das die Alltäglichkeit des Lebens erträglich macht, der hätte bei zweiterem wohl recht: mit einem Menschen wie Sümen Dreisig lassen sich ausschließlich krasse Sachen erleben, Sachen, die sich ein folgsames Alltagswesen nicht vorstellen kann, so wenig Vorstellungskraft ist aufgrund seines kümmerlichen Alltags geblieben, aber dies würde auch dazu führen, dass ersteres nicht möglich wäre. Mit krassen Leuten kommen krasse Leute klar. Also plädiere ich ausdrücklich dafür, sich nicht selbst für so krass zu halten und zu glauben, eine Bekanntschaft mit Sümen Dreisig wäre etwas Fantastisches, und vor allem sollte sich deshalb niemand dazu verleiten lassen, zu glauben, Sümen Dreisigs Zeit und Leben anzuschmachten, sei gerechtfertigt. Bitte glaube das niemand! Wer auch nur einmal im Leben in seinem Alltag ernsthaft gestört wurde, weiß, wie unangenehm sich jegliche Herausgerissenheit aus dem Alltag anfühlt und wird es zukünftig tunlichst vermeiden, dass sich so etwas wiederholt. Sümen Dreisig ist ein Herausreißer. Er wird die Menschheit herausreißen aus einem Abgrund, von dem sie nicht einmal weiß, dass die darin steckt, so drin steckt sie. Ich bitte zukünftige Leser meiner Überlegungen und zukünftige Betrachter der Bilder Sümen Dreisigs, diese meine Bedenken auch in Zukunft stets mitzubedenken.

L.E. 2016 Karl Blume

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